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Die Erweiterung der Europäischen Union um Rumänien und Bulgarien

Die Erweiterung der Europäischen Union um Rumänien und Bulgarien

Rede von Rainder Steenblock im Deutschen Bundestag zum EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien, 37. Sitzung vom 1. Juni 2006

 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich zwei Vorbemerkungen zu der Debatte machen, bevor ich nachher keine Zeit mehr habe. Erstens. Der Kollege Löning hat die Grundrechteagentur angesprochen. Ich will dem nur eines hinzufügen. Wenn wir über die Verteidigung von Menschenrechten in Europa ernsthaft diskutieren wollen - wir haben schon darüber diskutiert; bei der Grundrechteagentur sind wir uns einig -, dann ist eine Forderung wichtig, die bisher fehlte. Mir ist sehr wichtig, dass die Europäische Union endlich in dem großen Europa ankommt, in dem Europaratseuropa, in dem die Menschenrechte geschützt werden. Deshalb ist es wichtig, dass auch die EU endlich dem Europarat beitritt und die Menschenrechtskonvention ratifiziert. Das würde die Menschenrechtssituation und die Wahrnehmung von Menschenrechten vor dem Europäischen Gerichtshof deutlich verbessern.

 

Lassen Sie uns uns dafür gemeinsam einsetzen; denn das ist ein wichtiges Ziel. Zweitens. Wenn man sich die Debatten, die es jetzt in Europa gibt - Kollege Keskin hat es gerade unter dem Stichwort Vertrauenskrise angesprochen -, anschaut, dann stellt man fest, dass wir in der Gefahr sind, einige Tendenzen deutlich zu überhöhen. Es hat immer Debatten über Europa gegeben. Das ist überhaupt keine Frage. Es gibt Eurobarometerumfragen, wonach bestimmte Institutionen in Europa, gerade bürokratische Organisationen, von der Bevölkerung hart kritisiert werden. Das finde ich richtig. Das ist überhaupt kein Grund, nervös zu werden, sondern es ist ein völlig gesunder demokratischer Mechanismus, dass die Bevölkerung staatliche Institutionen erst einmal kritisiert. Wenn man sich diese Eurobarometerumfragen anschaut und sie mit Umfragen über nationalstaatliche Institutionen vergleicht, dann sieht man sehr deutlich, dass das Kritikbedürfnis gegenüber nationalstaatlichen Institutionen genauso hoch ist wie gegenüber europäischen bürokratischen Strukturen. Deshalb ist es sehr gefährlich, diese europakritische Tendenz überzubewerten und zu glauben, dass daraus eine Stimmung gegen die europäische Idee in Europa resultiert. Das halte ich für völlig falsch. Die Strukturen, die wir in Europa geschaffen haben, sind auch in der Bevölkerung fest verankert; das Projekt an sich ist ein riesiger Erfolg. Das Management wird zum Teil kritisiert, aber die Idee, gemeinsam die europäische Integration voranzutreiben, und dieses Friedensprojekt, das wir in Europa aufgebaut haben, das den Menschen in Europa Wohlstand gebracht hat, das Demokratie stabilisiert hat, das die Menschenrechte in Europa gefestigt hat und das dem Rechtsstaat in Europa den Durchbruch dauerhaft gesichert hat, sind tief in der Bevölkerung verankert. Wir sollten ein bisschen Vertrauen haben. Das ist etwas, was wir weiter unterstützen und worauf wir unsere Politik aufbauen müssen.

 

Ich halte es für hoch gefährlich - ich sage das in Richtung der Linken -, wenn in dieser Debatte unter dem Stichwort "Neoliberalismus" eine Sozialstaatsdebatte auf europäischer Ebene aufgemacht wird.

Auch ich halte vieles, was die Kommission macht, für falsch und kritikwürdig. Wenn Sie das aber benutzen, leisten Sie einem antieuropäischen Populismus Vorschub. Sie müssen sich einmal anschauen, was man in Europa mit Integration gemeint hat und welche Bereiche der Politik vergesellschaftet sind. Viele, die über die Frage einer Grundversorgung oder Grundsicherheit auf europäischer Ebene diskutieren, wissen nicht, wovon sie reden. Mich ärgert das total, weil diese Frage von allen Regierungen - ausdrücklich gewollt - auf die nationale Ebene geschoben wurde. Sie reden doch immer über Subsidiarität. Sie müssen aufpassen, dass der Populismus, den Sie an dieser Stelle verbreiten, nicht sehr nationalistisch gefärbt werden kann. Bulgarien und Rumänien haben viel geleistet. In diesem Zusammenhang stimme ich mit all dem überein - ich will das nicht wiederholen -, was die Kollegen vorher gesagt haben. Wir haben ein Beitrittsdatum, das eingehalten werden muss. Ich bin dafür, dass das der 1. Januar 2007 ist. Alles andere wäre unter pragmatischen Gesichtspunkten, was die Folgen angeht - das andere Datum könnte nur der 1. Januar 2008 sein -, viel gefährlicher und kontraproduktiv. Die Anstrengungen in diesen Ländern müssen verstärkt werden. Das ist überhaupt keine Frage.

 

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Keskin?

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Aber gerne, es laufen nämlich schon die letzten Sekunden meiner Redezeit.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Bitte.

Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE):

Lieber Kollege, Sie wissen, ich schätze Sie. Soll ich Ihre Bemerkung so verstehen, dass wir ein Europa ohne den Sozialstaat und ohne soziale Sicherungssysteme haben wollen? Die Tendenz ging gerade in den letzten Jahren in diese Richtung.

 

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, da haben Sie mich sicherlich etwas falsch verstanden. Europa und die europäische Integration basieren auf den sozialen Grundwerten, die wir alle vertreten. Darin sind wir uns immer alle einig gewesen. Es wäre falsch, hierbei zu polarisieren. Auf diese Werte haben wir Europa immer verpflichtet. Ich habe nur sehr deutlich gemacht, dass es unter dem Stichwort "Neoliberalismus" eine bestimmte Kritik gibt, die sich sehr leicht - ich will das noch einmal zuspitzen, weil mich das immer ärgert - mit der Verteidigung der Errungenschaften der Arbeiterklasse in einem Land verbinden lässt. Ich selbst habe genug Marxismusschulungen hinten mir und kenne darum die ganzen Debatten. Ich halte es für außerordentlich gefährlich und kontraproduktiv, wenn ein bestimmtes soziales Gefühl - das wir ja teilen -, wenn ein soziales Sicherungssystem instrumentalisiert wird, um antieuropäische, nationale Gedanken zu verbreiten.

 

Ich habe nicht gesagt, dass Sie das tun. Ich habe gesagt: Mit einer solchen Argumentation leistet man dem Vorschub. Das ist die große Gefahr, die ich in dieser Argumentation sehe. Ich will das sehr deutlich sagen, weil ich glaube, dass das eine ernste Angelegenheit ist. Gestatten Sie mir zum Abschluss noch zwei Sätze. Ich glaube, wir müssen aus den Schwierigkeiten, die es beim Beitritt von Bulgarien und Rumänien gegeben hat, Konsequenzen ziehen: Es darf nicht wieder eine Kopplung von Staaten geben - ich denke an Kroatien und die Türkei - und es darf nicht wieder eine klare Jahreszahl geben, an der sich Wohl und Wehe entscheidet. Es darf nicht mehr so sein, dass Kapitel einstimmig abgeschlossen werden und zwei Jahre später alle feststellen, dass es doch noch große Probleme gibt. Die Verhandlungen müssen in Zukunft neu strukturiert werden. Ich glaube aber, dass der europäische Integrationsprozess, der politisch, kulturell, demokratisch und ökonomisch so viele Erfolge aufzuweisen hat - die Erweiterung macht den Erfolg aus -, mit Rumänien und Bulgarien noch nicht zu Ende sein kann. Wir brauchen neue Spielregeln, aber die Europäische Union muss für alle Länder, die in Europa liegen, offen sein. Lassen Sie uns dafür streiten. Die Spielregeln müssen hart sein; aber die Offenheit brauchen wir. Vielen Dank. atte um die Finanzielle Vorausschau; hier wird eine sehr platte Debatte geführt, nicht darüber, wie wir dieses Europa aufstellen müssen und welche Projekte, Strukturen, wir von den Ressourcen her fördern müssen, auch in Richtung Nachbarschaftspolitik. Stattdessen dreht sich die Debatte darum, wie viel Geld wir für dieses Europa übrig haben und was wir auf nationaler Ebene erst alles machen müssen, bevor wir auch nur einen Euro an Europa spenden. Das halte ich für völlig falsch angesichts der Herausforderung, vor der wir in Europa unter dem Gesichtspunkt der Globalisierung stehen. Solche Debatten wie die um die Finanzielle Vorausschau der EU leiten eine Diskussion um die Renationalisierung von Politik und um die Bedeutung von Nationalstaaten ein, die in die völlig falsche Richtung geht, nicht als bewusste politische Strategie, sondern lediglich aus kurzfristig materiellen Motiven heraus. Und ich glaube, dass wir uns damit auf eine Rutschbahn begeben, auf der es immer schneller nach unten geht in eine bestimmte Argumentations- und Diskussionskultur hinein, die die europäische Integration sehr grundsätzlich in Frage stellt. Wir werden unendlich viel aufwenden müssen, um die Schäden, die dadurch entstehen können, wieder zu beheben.

 

 

 



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