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Ein neuer Grundlagenvertrag für die EU


Ein neuer Grundlagenvertrag für die EU

von Rainder Steenblock MdB, Jürgen Trittin MdB, Omid Nouripour MdB

(Stand 21.03.07)

Seit den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden liegt der Vertrag über eine Verfassung für Europa auf Eis. Die Neuordnung der EU-Strukturen muss jedoch dringend in Gang gesetzt werden. Deshalb schlagen wir vor, den vorliegenden Vertragsentwurf in zwei Teile aufzuspalten:

  • In einen Grundlagenvertrag, der die Grundrechtecharta enthält und die Ziele und Werte der EU sowie die institutionellen Regelungen definiert;
  • sowie in einen Reformvertrag mit detaillierten Regelungen für die einzelnen Politikbereiche.

Wesentlich ist, dass die Substanz des Verfassungsvertrages gewahrt bleibt und die EU handlungsfähiger, demokratischer und transparenter wird. Über Zusatzprotokolle wollen wir schließlich eine stärkere Zusammenarbeit in den Bereichen Klima-/Energie- sowie in der Sozialpolitik möglich machen.

I. Die EU für die Herausforderungen des neuen Jahrhunderts modernisieren

Die Europäische Union (EU) braucht demokratische und effiziente Institutionen, transparente Verfahren und einen starken Schutz der Grund- und Bürgerinnenrechte. Die EU braucht strukturelle Reformen für die sozial gerechte und nachhaltige Gestaltung der Globalisierung, den Kampf gegen den Klimawandel, die Bekämpfung internationaler Kriminalität und des Terrorismus sowie die verantwortungsvolle Gestaltung von Migration nach Europa. Wollen sich die europäischen Staaten Gehör in der Welt verschaffen, dann müssen sie mit einer stärkeren und abgestimmten Stimme sprechen. Die EU kann durch ihre Verfasstheit zu einem Vorbild für diejenigen werden, die eine Alternative zu einer ausschließlich finanzmarktorientierten Globalisierung suchen.

Dies alles hängt jedoch vom politischen Willen der Mitgliedstaaten und von den dringend notwendigen Reformen am Gefüge der EU ab. Denn der derzeit gültige Vertrag von Nizza bereitet die EU der 27 Staaten nur unzureichend auf die Herausforderungen der Zukunft vor. Dies beweisen beispielsweise Verträge wie der Vertrag von Prüm, über die mangelnde Handlungsfähigkeit im Bereich polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit ausgeglichen werden sollen. Die Gefahr besteht, dass solche Einzelverträge außerhalb des EU-Rahmens zunehmend geschlossen werden. Dabei wird die demokratische Kontrolle durch die Umgehung sowohl der nationalen Parlamente als auch des Europäischen Parlamentes ausgehebelt."

Der Vertrag über eine Verfassung für Europa bietet eine gute Grundlage für diese Reformen und für die Stärkung und Dynamisierung des Integrationsprozesses. Der Verfassungsvertrag wurde in langen und umfassenden Verhandlungen vom öffentlich tagenden Konvent zur Zukunft Europas erarbeitet und von allen EU-Mitgliedstaaten einstimmig beschlossen. Er birgt den größtmöglichen gemeinsamen europäischen Nenner.

Er legt das Fundament einer europäischen Demokratie, errichtet die Union als Grundrechte-Gemeinschaft, gründet ihre Politik auf ein gemeinsames Wertefundament, das die Ziele und Grundwerte beschreibt und auf dem sich die EU als politisches Subjekt bilden kann. Er verpflichtet die EU auf das Prinzip der Nachhaltigkeit und erklärt soziale Rechte zu klassischen Menschenrechten. Er ermöglicht den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Er stärkt die Parlamente und die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger. Und er enthält eine Reform der Institutionen und Politiken der EU, die sie entscheidungs- und handlungsfähig erhält und verhindert, dass aus dem Prozess der Erweiterung eine innere Lähmung der Gemeinschaft entsteht. Der Verfassungsvertrag ist ein praktikabler institutioneller Rahmen für die erweiterte Europäische Union bei gleichzeitiger Sicherung ihrer Handlungsfähigkeit.

Mittlerweile haben 18 EU-Mitgliedstaaten den EU-Verfassungsvertrag – darunter Spanien und Luxemburg per Plebiszit - ratifiziert. Sieben EU-Mitgliedstaaten – mit Rumänien und Bulgarien neun – haben diesen Schritt nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden vollzogen. Damit haben zwei Drittel der 27 Mitgliedstaaten, die eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der EU repräsentieren, den Verfassungsvertrag ratifiziert. Vier weitere Mitgliedstaaten haben mehrfach und deutlich signalisiert, dass sie den Verfassungsvertrag in seiner jetzigen Form ratifizieren wollen.

Demgegenüber stehen das Nein einer Mehrheit der Bürgerinnen Frankreichs und der Niederlande zum Verfassungsvertrag sowie die Kritik am Vertrag durch die Regierungen Polens, der Tschechischen Republik und des Vereinigten Königreiches. Doch das Nein war oft nicht Ausdruck einer grundsätzlichen Ablehnung der europäischen Integration. Es beruhte auf einem Bündel an Motiven. Es mischten sich Sorgen um die eigene soziale und wirtschaftliche Situation, Globalisierungsängste, Kritik an einzelnen Vorhaben der EU, Furcht vor den Folgen der erfolgten Erweiterung und vor dem Beitritt weiterer Staaten Europas, Abstrafung der französischen und der niederländischen Regierung sowie die Aufforderung, über einzelne Inhalte des Verfassungsvertrages weiter nachzudenken.

Vor diesen Sorgen und dieser Kritik dürfen sich die EU-Mitgliedstaaten nicht wegducken. In Würdigung der übergroßen Mehrheit der Mitgliedstaaten, die Ja zum Verfassungsvertrag gesagt haben bedarf es eines neuen Anlaufs für einen neuen Vertrag.

Die 18 EU-Mitgliedstaaten, die den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert haben, erklärten sich am 26. Januar 2007 in Madrid ausdrücklich dazu bereit, Änderungsvorschläge zu prüfen und zu verhandeln. Klar ist, dass der Verfassungsvertrag nur dann in Kraft tritt, wenn ihn alle Mitgliedstaaten ratifizieren. Es ist auch klar, dass die Sorgen und die Kritik der Menschen in Frankreich und den Niederlanden ernst genommen werden müssen und ihnen nicht noch einmal derselbe Text vorgelegt werden kann.

Wir brauchen also einen neuen Weg.

 

II. Eine EU der Bürgerinnen und Bürger

Bisher wurde die europäische Integration sehr stark von den politischen Eliten über die Regierungen der Mitgliedstaaten vorangetrieben. Daher ist die konkrete Ausgestaltung der europäischen Zusammenarbeit für viele Bürgerinnen und Bürger oft schwer durchschaubar. Es ist notwendig, die politischen Prozesse auf europäischer Ebene öffentlich sichtbarer und transparenter zu machen. Nachvollziehbarkeit und Berechenbarkeit der Verfahren sowie Verantwortlichkeit für Entscheidungen sind fundamentale Elemente jeder Demokratie.

Die Bürgerinnen und Bürger wollen schlicht wissen, wer für welche Entscheidung verantwortlich ist. Zudem wird eine europäische Öffentlichkeit nur dann entstehen können, wenn Debatten über politische Alternativen öffentlich geführt werden und sich die Bürgerinnen und Bürger über ein Bürgerbegehren direkt an europäischer Politik beteiligen und mit ihrer Stimme europäische Politik sanktionieren können!

Der Verfassungsvertrag ist ein notwendiger Schritt hin zu mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz im Integrationsprozess und hin zu einer Politischen Union. Deshalb ist es entscheidend, dass die Bürgerinnen und Bürger in die Neuordnung der EU eingebunden werden. Doch die Staats- und Regierungschefs haben versagt. Statt die so genannte Reflexionsphase mit den Bürgerinnen und Bürgern, der Zivilgesellschaft und den Parlamenten beispielsweise in einem neuen Konvent zu gestalten, finden die Beratungen hinter verschlossenen Türen ganz im Sinne der klassischen Geheimdiplomatie des 19. Jahrhunderts statt. Statt offener Debatten über die Aufgaben und Ziele der EU werden die zentralen Beschlüsse in Regierungshinterzimmern abgestimmt und sollen offensichtlich in einer undurchsichtigen und wenig Erfolg versprechenden Regierungskonferenz abgeschlossen werden. Der neue Vertrag kann so nicht zu einem Projekt der europäischen Bürgerinnen und Bürger werden.

 

III. Zweiteilung: Ein Grundlagenvertrag mit Grundrechtecharta und ein Reformvertrag

Wir wollen den Verfassungsvertrag übersichtlicher machen und klarer strukturieren. Deshalb schlagen wir vor, den vorliegenden Text in zwei Teile aufzuspalten, in einen Grundlagenvertrag und in einen Reformvertrag.

Der Grundlagenvertrag soll die Werte und Ziele der EU definieren und sämtliche institutionelle Regelungen sowie die europäische Grundrechtecharta enthalten.

Der Reformvertrag enthielte dann die detaillierten Regelungen für die einzelnen Politikbereiche.

Unabdingbare Bestandteile des Grundlagenvertrags

Die EU befindet sich am Scheideweg. Die derzeitigen Strukturen wurden für sechs und nicht für 27 Mitgliedstaaten konzipiert. Gleichzeitig steht die EU vor einer doppelten Herausforderung: im Innern muss sie ihren Bürgerinnen und Bürgern näher gebracht werden und nach Außen muss sie als handlungs- und aktionsfähiges Gemeinwesen zur Gestaltung der sich wandelnden, globalisierten Welt auftreten können. Um sich dieser doppelten Herausforderung stellen zu können, muss die EU handlungsfähiger, demokratischer und transparenter werden. Daher sind folgende Reformen zentral für die Zukunft der EU:

 

1. Die europäische Grundrechtecharta

Die europäische Grundrechtecharta muss endlich rechtsverbindlich werden. Die Europäische Union entwickelt sich immer mehr zu einer Politischen Union. Deshalb ist ein effektiver Schutz von Grund- und Bürgerrechten in allen Politikbereichen notwendig.

Mit der Grundrechtecharta erhält die EU ein deutlich sichtbares bürgerrechtliches Fundament und bindet die EU-Politik, ohne dass höhere Standards einzelner Staaten dadurch unterlaufen werden. Identität und Legitimität der EU als Wertegemeinschaft werden mit der Grundrechtecharta gestärkt.

Wir wollen die Charta als Ganzes in den Grundlagenvertrag überführen. Es reicht keineswegs aus, nur auf sie zu verweisen. Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger müssen mit einem Blick ihre Rechte in der EU erkennen können.

 

2. Mehr Handlungsfähigkeit

  • Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen: Einstimmigkeit blockiert. Deshalb wollen wir gerade in den Bereichen der Justiz- und Innenpolitik den Übergang zur Mehrheitsentscheidung.
  • Europäischer Außenminister und Europäischer Auswärtiger Dienst: Wir wollen eine gemeinsame Außenpolitik, die sichtbar ist durch das Amt des Europäischen Außenministers und eine integrierte Diplomatie. Die EU muss außenpolitisch künftig mit einer Stimme sprechen und agieren.
  • Handlungsfähigkeit der Kommission: Die Europäische Kommission umfasst derzeit 27 Mitglieder, denn jedes Mitgliedsland ist mit einem/r KommissarIn vertreten. Wir unterstützen ein gleichberechtigtes Rotationsprinzip, durch das nur noch 2/3 der Mitgliedstaaten in einer Kommission vertreten sein werden. Jeder Mitgliedstaat wird dadurch in zwei von drei aufeinanderfolgenden Amtsperioden der Kommission vertreten sein.

 

3. Demokratisierung der Strukturen

  • Stärkung des Europäischen Parlaments: Wir wollen, dass das bisherige Mitentscheidungsverfahren zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der EU wird. Denn damit wird das direkt gewählte Europäische Parlament neben dem Ministerrat zum gleichberechtigten Gesetzgeber.
  • Stärkung der Bürgerbeteiligung: Wir unterstützen das Verfahren einer Unionsbürgerinitiative, durch die erstmals ein direktdemokratisches Element in der EU eingeführt wird.

 

4. Transparentere Verfahren

  • Öffentlichkeit der Gesetzgebung: Die Bürgerinnen und Bürger sollen wissen, wer für welche Entscheidung verantwortlich ist. Deshalb muss nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch der Ministerrat immer dann öffentlich tagen, wenn er als Gesetzgebungsorgan zusammentritt.
  • Kompetenzordnung: Es muss klar sein, wer für was in der EU zuständig ist, deshalb brauchen wir eine klare Kompetenzordnung mit ausschließlichen und geteilten Zuständigkeiten sowie unterstützenden Maßnahmen der EU.
  • Vereinfachung: Bisher gibt es 37 verschiedene Rechtsakttypen in der EU. Das ist unübersichtlich und verwirrend. Deshalb müssen die Rechtsinstrumente und Verfahren auf vier Normtypen reduziert werden.

 

Ausgestaltung des Reformvertrages – der Politikvertrag für die Europäische Union

Neben den Grundlagenvertrag tritt der ergänzende Reformvertrag mit den Ausführungsbestimmungen, Der Reformvertrag enthält den gemeinschaftlichen Besitzstand (= Acquis Communautaire), wie er im EG-Vertrag festgeschrieben ist. In ihm sind die detaillierten Regelungen für die einzelnen Politikbereiche aufgeführt. Darunter fallen u.a. die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), Justiz und Inneres sowie Änderungen zum Haushaltsverfahren.

IV. Eine stärkere Zusammenarbeit in der Sozial- und Energiepolitik

Nur institutionelle Reformen sind nicht genug. Die politische Integration Europas hinkt der wirtschaftlichen Integration weiter hinterher und die Mehrheit der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger wünscht sich, dass wichtige Fragen der Klima- und Energiepolitik auf EU-Ebene gelöst werden. Deshalb schlagen wir Zusatzprotokolle vor, mit denen eine weitergehende Zusammenarbeit in der Sozial- und in der Energiepolitik möglich wird.

Reformierte europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik – Sozialprotokoll

Der gemeinsame Binnenmarkt ist für die allgemeine Wohlstandsentwicklung in der EU wichtig und notwendig. Allerdings hat er eine Schieflage erzeugt: denn der handels- und kapitalgetriebene Wettbewerb ist in der EU fast grenzenlos, die Solidarität ist dem gegenüber weitgehend national organisiert – und das auf höchst unterschiedlichem Niveau. Eine reformierte europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik ist daher notwendig.

In der Lissabon-Strategie hat sich die EU zum Ziel gesetzt, „im Rahmen des globalen Ziels der nachhaltigen Entwicklung ein Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in der Welt sein.” Im täglichen Handeln wurde der Lissabon-Ansatz jedoch auf eine bloße Wachstums- und Industriestrategie reduziert. Dem wollen wir ein soziales Europa entgegensetzen, das dem Gebot der Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit gerecht wird.

Um dies verbindlich und den Bürgerinnen und Bürgern deutlich zu machen, sollte der Reformvertrag um ein Protokoll über die Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, in der auch die Solidarität innerhalb der EU untermauert wird, ergänzt werden. Die Mitgliedstaaten, die dies wünschen, sollten sich auf eine verstärkte Zusammenarbeit in diesem Bereich, auf die Schaffung europäischer Rechte für die Beschäftigten und mehr gemeinsame soziale und ökologische Mindeststandards verständigen.

 

Mehr Klimapolitik und Schutz der natürlichen Ressourcen – Klima- und Energieprotokoll

Klimaschutz und die Frage der Energiesicherheit sind neben dem Wunsch eines hohen sozialen Schutzniveaus in der EU die Top-Prioritäten, die die Bürgerinnen und Bürger von der Europäischen Union verfolgt sehen wollen. Der neue Bericht der UNO Klimaexperten (IPCC-Bericht), der milde Winter und die heftigen Stürme in diesem Januar haben dies noch verstärkt. Deshalb hat sie die EU verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die globale Temperatur nicht um mehr als 2 ° C steigt.

Zudem haben die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine, Belarus, Polen und Litauen der EU ihre starke Abhängigkeit von Energieimporten vor Augen geführt. Mit der Endlichkeit der fossilen Energien einschließlich des Urans werden solche politische Spannungen zunehmen.

Klimaschutz und Energieversorgungssicherheit erfordern einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien sowie stärkere Investitionen in Forschung und Entwicklung, um Probleme der sicheren Energieversorgung, des wachsenden Verbrauchs oder des Klimawandels anzugehen. Für die EU-Ebene müssen die drei E’s verbindlich werden: Energiesparen, Energieeffizienz und der Ausbau Erneuerbarer Energiequellen.

Dafür wollen wir dem Reformvertrag ein Protokoll für eine gemeinsame Klima- und eine nachhaltige Energiepolitik beifügen. Mitgliedstaaten, die derzeit noch nicht zu einem solchen Abkommen bereit sind, hätten auch hier die Möglichkeit später hinzuzustoßen.

Es ist gut, dass es gelungen ist, den Euratom-Vetrag als internationalen Vertrag außerhalb des Verfassungsentwurfes zu belassen. Die Beendigung des Euratom-Vertrages ist allerdings die beste Lösung.
 

Stand: 21.03.2007

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