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Ukraine nach der Wahl

Ukraine nach der Wahl – neue Machtkonstellationen und europäische Perspektiven

Zur Diskussion mit deutschen und ukrainischen Partnern über die sich verändernden innen- sowie außenpolitischen Konstellationen in der und durch die Ukraine hatte die grüne Bundestagsfraktion am 27. September eingeladen. Rainder Steenblock, europapolitischer Sprecher der Fraktion, und Dr. Heike Dörrenbächer, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, moderierten jeweils eins der zwei Panels des Fachgespräches.

Renate Künast, Fraktionsvorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, eröffnete die Veranstaltung mit der Darstellung der grünen Position zur klaren Eingliederung der Ukraine in europäische und transatlantische Strukturen.

Beim ersten Panel wurde zunächst eine Bestandsaufnahme des politischen Umbruchs in der Ukraine diskutiert. Demokratische und wirtschaftliche Entwicklung seit der Orangenen Revolution 2004 und der Prozess der Regierungsbildung nach den Parlamentswahlen im März 2006 wurden nachgezeichnet. Denn die Ukraine ist mit der Orangenen Revolution erstmals ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit gerückt. Auslöser waren die umfangreichen Wahlmanipulationen bei den Präsidentschaftswahlen 2004, denen sich die Anhänger von Viktor Juschtschenko erfolgreich widersetzten. Am 26. März 2006 haben dann in der Ukraine die ersten demokratischen, freien und fairen Parlamentswahlen des Landes stattgefunden - doch erst vier Monate später kam es nach turbulenten Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung. Die ehemaligen Kontrahenten Viktor Juschtschenko und Viktor Janukowitsch werden von nun an gemeinsam die Politik des Landes bestimmen. Welche Wahl hat die Ukraine nun damit tatsächlich getroffen? Wie steht es um die Entfaltung der vermittelten Wertvorstellungen aus der Orangenen Revolution, der Festigung von Demokratie und Marktwirtschaft?

Dr. Lars Handrich vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin und Mitglied der Deutschen Beratergruppe zu wirtschaftlichen Reformen bei der ukrainischen Regierung in Kiew öffnete das erste Podium mit einer Darstellung der schwierigen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklungen der Ukraine. Nach einer fünfjährigen wirtschaftlichen Erholungsphase in den Jahren 2000-2004 mit durchschnittlichen Wachstumsraten von 7,4% habe das Land seit der Orangenen Revolution Ende 2004 eine starke Abschwächung des Wirtschaftwachstums erlebt. Ursache hierfür seien hauptsächlich ausgebliebene Wirtschaftsreformen und zu geringe Investitionen. Dennoch standen die wirtschaftlichen Themen bei den letzten Parlamentswahlen und den anschließenden Koalitionsverhandlungen eher im Hintergrund und seit der Regierungsbildung im August seien bisher noch keine klaren Linien der zukünftigen Wirtschaftspolitik zu erkennen. Für 2006 wird lediglich ein Wirtschaftswachstum von 3% erwartet. Damit bleibt die Ukraine weit hinter den sonstigen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa zurück. Die Sicherung der gesamtwirtschaftlichen Stabilität, die Konsolidierung der Staatsfinanzen, die Stabilisierung des Rentensystems und die Strukturreformen im Energiesektor stellen die ukrainische Wirtschaftspolitik vor erhebliche Herausforderungen. Umso wichtiger sei für die Umsetzung marktwirtschaftlicher Reformen der angestrebte WTO Beitritt und die geplanten Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen mit der EU.

Prof. Dr. Gerhard Simon, Osteuropahistoriker an der Universität Köln und ehemaliger Leiter der Forschungsabteilung Russland und andere Staaten der GUS im ehemaligen Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, nahm anschließend eine Einordnung der aktuellen Ereignisse in den historischen und politischen Kontext vor. Er vertratt die These, dass die Orangene Revolution zwar gescheitert sei – der Weg in eine demokratische Ordnung dabei weiter offen bleibe. Die Orangenen Kräfte hätten sich nach den Parlamentswahlen nicht zu einer Koalition zusammenraufen können. Die Verflechtung von big business und Politik wurde nicht erfolgreich durchleuchtet und die großen Worte vom Majdan „Banditen ins Gefängnis!“ seien bisher auch uneingelöst geblieben. Dennoch: der Weg in die Demokratie bleibt offen. Bislang seien zentrale Voraussetzungen für Demokratie nicht angetastet worden - die Medienfreiheit und die freie Entfaltungsmöglichkeit für die Opposition sind nicht eingeschränkt worden.

Auf den Hintergrundinformationen aufbauend nahm Dr. Witalij Klitschko Stellung. Nach eigenem bekunden „Hobby-Politiker“ und „Botschafter seines Landes im Ausland“ hatte er sich stark für Demokratisierung und Bürgerrechte in der Ukraine eingesetzt und auch für die Kiewer Bürgermeisterwahlen im März 2006 kandidiert. Die Wahl hatte er zwar als „Zweitbester“ nicht ganz für sich gewinnen können, doch er bekundete seine Entschlossenheit sein Heimatland politisch weiterzubringen. Die Ukraine habe sich in den letzten 2 Jahren bereits massiv verändert, jedoch sei er von den letzten Parlamentswahlen sehr enttäuscht gewesen, noch nicht alle Träume hätten sich somit erfüllt. Seinen ersten Boxkampf mit 14 Jahren habe er aber auch verloren und das hätte ihn sehr motiviert, erwiderte er auf die Frage nach seinen Plänen zu weiteren politischen Aktivitäten. Daraus kann wohl geschlossen werden, dass von dem ehemaligen Boxweltmeister noch viel zu erwarten ist!

Aus dem weiteren Weg der Ukraine ergeben sich aber auch wichtige und folgenreiche Auswirkungen für die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Denn die Entwicklung in der Ukraine sowie ihre angestrebten europäischen und transatlantischen Perspektiven stehen im direkten Zusammenhang mit der Frage nach der Zukunft der Europäischen Union – nach der Gestaltung der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik.

Somit lautete das Thema des zweiten Panels: „Berlin – Kiew – Moskau und der Weg nach Brüssel. Ambivalente außenpolitische Aspirationen der Ukraine im Kontext der internen EU-Debatte um „Aufnahmefähigkeit“ und Nachbarschaftskonzept sowie der Ansprüche Russlands“.

Wilfried Jilge vom Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig, sieht im Gegensatz zu seinen Vorrednern die Orangene Revolution keineswegs als gescheitert. Enge demokratische Standards wären von den Ukrainern selber gesetzt worden, an denen sich nun die Politiker selber messen müssten. Das sei in einem Transformationsland von sehr großer Bedeutung - dass die Standards nicht von außen aufgesetzt, sondern von innen erkämpft wurden. Von den russischen Ansprüchen riet er Abstand zu nehmen, da die Frage, wer diese denn tatsächlich vertrete und wie repräsentativ diese seien, immer wieder schwierig sei. Angesichts der letzten Entwicklungen in der Ukraine plädierte Jilge für eine Intensivierung der Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU statt einer Isolierung des Landes. Demnach solle gezielt in unterschiedliche Bereichen Unterstützung geboten werden: in Justiz und Verfassungsgerichtsbarkeit; bei wirtschaftlichen Reformen mit dem Ziel des WTO-Beitritts; und bei der Energiepolitik, um eine Unabhängigkeit von Russland zu erreichen. Schließlich sei es wichtig, der Ukraine gegenüber ehrlich zu sein, denn in der internen politischen Debatte in der Ukraine werde jeder Politiker an der Frage nach dem Beitrittsdatum gemessen, so dass der unklare Kurs der EU verheerende Wirkungen für das politische Leben haben könne.

Dr. Olena Prystayko von der Nationalen Akademie der Staatsverwaltung beim Präsidenten der Ukraine betonte auch, dass die Frage nach dem NATO-Beitritt der Ukraine in der Innenpolitik instrumentalisiert würde und in den russisch-ukrainischen Beziehungen natürlich eine erhebliche Rolle spielten. Darüber hinaus beklagte sie, dass der Aktionsplan nicht ein „Road map“ geworden sei, der über konkret formulierte Schritte ein Ziel klar formuliere.

Dr. Gerhard Sabathil, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, vertrat den offiziellen Standpunkt der EU, dass der Ukraine derzeit keine Mitgliedschaft angeboten werden könnte, dafür aber eine privilegierte Partnerschaft. Jede Generation müsse ihre eigene Antwort auf die Grenzen Europas finden, und weitere Mitgliedschaften wären derzeit aus den Gründen der Aufnahmekapazitäten der EU nicht möglich. Die ENP, die sich derzeit in der Revision befindet und im Dezember diesen Jahres vorgestellt werden wird, würde im Gegensatz zur bisherigen Vereinheitlichung der südlichen und östlichen Dimension, einen stärkeren „á la carte“ Ansatz vertreten. Ein starkes Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, verfeinert um den ENP-Aktionsplan, die beide im nächsten Jahr von der EU mit der Ukraine neu verhandelt werden, würden starke Bausteine für die zukünftige Heranführung im Sinne der Zusammenarbeit legen. Dabei solle die EU die Konditionalität in allen Bereichen der Kooperation zur Grundlage machen, um dadurch die Reformen in der Ukraine entscheidend vorantreiben zu können.

Mykola Rjabtschuk, ukrainischer Schriftsteller und Journalist sowie Mitbegründer der Kiewer Monatszeitschrift Krytyka, gilt als einer der einflussreichsten politischen Kommentatoren des Landes. Seiner Meinung nach ist die momentane Europäische Nachbarschaftspolitik(ENP) alles andere als zufrieden stellend. Die „Festung Europa“ sei zwar eine menschliche, aber dennoch nationale und egoistische Abwehrreaktion. Die Frage sei demnach ob die EU eine „policy of containment“ oder „policy of engagement“ verfolgen würde. Russland dagegen biete riesige Ressourcen, Finanzen etc. was sehr verführerisch und gerade deswegen auch gefährlich sei. Deswegen sei es notwendig, dass die EU eine langfristige, dennoch eindeutige EU-Perspektive der Ukraine eröffne um damit auch die reformfreundlichen Kräfte zu stärken.

Zum Abschluss der Veranstaltung verwies Katrin Göring-Eckardt , Vizepräsidentin der deutschen Bundestages und Schirmherrin der Kiewer Gespräche auf die positive Entwicklung, die die Ukraine während der vergangene zwei Jahre genommen habe. Bei allen Schwierigkeiten dürfe nicht übersehen werden, dass die Ukraine heute ein Land sei, in dem Meinungs- und Pressefreiheit herrsche und in dem freie und faire Wahlen stattfinden konnten. Diese Entwicklung weiter zu unterstützen und die Demokratie zu festigen liege im ureigensten Interesse der Europäischen Union. Daher sei die grundsätzliche Zusage einer europäischen Perspektive für die Ukraine ohne Alternative. Als drängendste Herausforderungen benannte Katrin Göring-Eckardt die Energiefrage, vor allem die effizientere Nutzung der Ressourcen als Grundlage der ökonomischen Entwicklung der Ukraine sowie die sozialen Probleme des Landes. Für die Weiterentwicklung sei die Verringerung der Armut, Sicherung der Renten und ein funktionierendes Gesundheitssystem unabdingbar. Beim Aufbau einer solidarischen Gesellschaft lägen ihre Hoffnungen vor allem auf dem Engagement der Jugend, betonte die Vizepräsidentin.

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