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Europa - wie weiter?

Rainder Steenblock/ Jürgen Trittin

Diskussionsanstöße für die Klausur der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen am 11. und 12. Januar 2006 in Wörlitz.

Bestandsaufnahme:

Die Europäische Union steht an einem für ihre weitere Entwicklung kritischen Scheideweg. Zwar gab es in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses bereits einige schwierige Phasen, aber die derzeitigen Probleme sind schwerwiegender: die Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages in zwei Gründerstaaten und die damit geschwächte Handlungsfähigkeit der auf 25 Staaten erweiterten EU verschärfen die krisenhafte Entwicklung der vergangenen Jahre.

Trotz aller unbestreitbaren Erfolge der europäischen Integration erscheint die EU derzeit seltsam ziellos. In einer Situation, wo sie ihre vielfach unterschätzte friedensstiftende Funktion gerade mit Blick auf Mittel- und Osteuropa sowie auf dem Balkan unter Beweis stellt, mangelt es ihr an einer Vision und an Legitimation. Gerade im Moment ihrer großen Leistung, dem Beitritt der 10 Staaten Mittel- und Osteuropas, offenbart sich eine zunehmende Entfremdung der Bürgerinnen und Bürger von der EU, ihren Institutionen und Politiken. Europa war immer ein Projekt gesellschaftlicher Eliten, das von vielen Menschen achselzuckend und mit einer tendenziell europafreundlichen Grundhaltung akzeptiert wurde. Nun begehren gerade in zwei der Kern- und Gründerstaaten Mehrheiten gegen dieses Europa der Eliten auf.

Diese Entfremdung hat vielfältige Gründe - alte wie neue, politische wie ökonomische. Es gibt das alte Legitimationsdefizit, aber auch neue Ängste - und es gibt eine verstärkte politische Strömung innerhalb von Rat, Kommission und seit jüngstem auch dem Parlament, die dieses Legitimationsdefizit verschärfen und die Ängste verstärken. Die Krise der EU ist mehr als ein Kommunikationsdefizit.

Legitimationsdefizite:

Die Bürgerinnen und Bürger haben nicht den Eindruck, dass sie auf die Politikformulierung in der EU hinreichend Einfluss hätten. Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind primär "kleine Bundestagswahlen", Volksentscheide in den Nationalstaaten dienen auch als Mittel zur Abrechnung mit der jeweiligen nationalen Regierung. Eine wirkliche Debatte über europäische Themen findet nicht statt. Eine europäische Öffentlichkeit, eine transnationale politische Debatte ist bestenfalls im Entstehen begriffen. Das Europäische Parlament ist nicht in allen Bereichen mit dem Rat gleichberechtigt an der Gesetzgebung beteiligt, Elemente direkter Demokratie sind noch nicht vorhanden. Die tägliche Arbeit des EP findet in den Medien wenig Niederschlag. Dort, wo Beteiligung existiert - wie im Wirtschafts- und Sozialausschuss, im Ausschuss der Regionen, im Sozialen Dialog - werden die Diskussionsprozesse und Ergebnisse zu wenig in Brüssel und den Mitgliedstaaten einbezogen und aufgegriffen. Die Tagungen des Rates finden bis auf wenige Ausnahmen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, was es den teilnehmenden Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten erleichtert, "die EU" für Misserfolge verantwortlich zu machen und der nationalen Ebene die Erfolge zuzuschreiben, was wiederum das Bild der EU in der öffentlichen Wahrnehmung negativ prägt. Es wird noch eine Weile dauern, bis die Entscheidung vom 21.12., die Ratstagungen zu EU-Rechtsakten, die im Mitentscheidungsverfahren entschieden werden, öffentlich stattfinden zu lassen, politische Wirkung zeigt.

Globalisierung und Antwort auf die Globalisierung:

Die EU war immer beides - Ausdruck einer sich globalisierenden Ökonomie und Antwort darauf. Auf der einen Seite konnten die Menschen erfahren, welche Verbesserungen des Lebensstandards mit einem Wegfallen von Grenzen und Zöllen sowie der Öffnung der Märkte in Europa verbunden waren - auf der anderen Seite war diese Erfahrung mit schmerzhaften Strukturbrüchen verbunden. Wo am Anfang mit der Montanunion noch Kohle und Stahl im Mittelpunkt standen, sind Branchen wie die Kohle in Frankreich oder in Großbritannien heute nicht mehr vorhanden, oder unterliegen wie in Deutschland einem hoch subventionierten Rückbauprozess.

Aber anders als im globalen Maßstab fand die Öffnung der Märkte, die Freizügigkeit für Kapital, Waren und Dienstleitungen sowie (in Europa anders als in der Welt) der Arbeitskräfte in einem geordneten Rechtsrahmen statt. Von einem blinden Diktat des Marktes kann angesichts von Schutzvorschriften, Übergangsregelungen bis hin zu einem europäischen Streitschlichtungsorgan - dem Europäischen Gerichtshof - nicht die Rede sein. Dieser, sich schwierig entwickelnde Rechtsrahmen, der politische Überbau über den sich herausbildenden Binnenmarkt macht den Charakter der EU als Alternative zu einer blinden Globalisierung aus.

Diese Balance zwischen Binnenmarktorientierung und dem Primat der Politik ist offenkundig aus dem Gleichgewicht. Subjektiv wie objektiv. Die EU und die Mitgliedstaaten schaffen es offensichtlich nicht ausreichend, den Menschen das Gefühl zu geben, dass die europäische Integration einen Mehrwert für jeden Einzelnen bringt. Die hohe Arbeitslosigkeit wird z.B. direkt mit der EU in Verbindung gebracht, obwohl eine Rückkehr auf eine nationalstaatliche Steuerung und Abschottung der Märkte nicht weniger sondern mehr Arbeitslosigkeit zur Folge hätte. Die EU und ihre Erweiterung werden von vielen nicht als Chance gesehen, sondern als Bedrohung des eigenen Lebensstandards. Die EU wird vielmehr wahrgenommen als Beschleuniger einer Globalisierung, die den Sozialstaat bedroht.

Es wäre falsch, den Menschen hier einfach nur Unkenntnis vorzuwerfen. Die Denunziation eines Verfassungsvertrages mit seiner deutlichen Stärkung des Parlaments, seinem ausgemachten Grundrechtskatalog und der erstmaligen Einführung von plebiszitären Elementen als eines angeblich neoliberalen Projekts konnte vor allem deshalb gelingen, weil in Kommission und Rat, zunehmend aber auch im Parlament die Apologeten des bloßen Binnenmarkts die Diskurshoheit erobert haben. Zugespitzt schlägt sich dies in der Dienstleistungsrichtlinie nieder, die anstatt einer Harmonisierung von sozialer und Umweltstandards nach oben, diese nach dem Herkunftslandprinzip nach unten absenken möchte.

Diese Richtlinie kann als durchaus exemplarisch angesehen werden für eine politische Linie in Rat und Kommission unter dem Stichwort better regulation durch vorgeblichen Bürokratieabbau tatsächlich auf Deregulierung zu setzen. Und vom bisherigen Gleichklang von Wachstum, Sozialer Kohäsion und Nachhaltigkeit möchte sich der Kommissionspräsident verabschieden zugunsten einer bloßen Wachstumsorientierung. Änderungen von Kommissionsvorschlägen im Rahmen der Gesetzgebung in Rat und Parlament sollen künftig nur noch nach einem impact assesment - einer Wettbewerbsverträglichkeitsprüfung - erfolgen dürfen. Dass das Ergebnis mehr und nicht weniger Bürokratie, nicht mehr Transparenz sondern mehr Lobbyeinfluss produziert, kann man am Entstehen wie am Ergebnis der Chemikalienverordnung REACH nachvollziehen, für das über 40 solcher assesments vorgelegt wurden.

Im Umweltbereich wird dem Vorreiter für eine globale Umweltpolitik gesetzgeberischer Stillstand verordnet, während unter der Parole der Entbürokratisierung der Standardabbau vorbereitet wird - auch eine Folge des Verlustes von Regierungsbeteiligungen von Grünen in Italien, Finnland, Belgien, Frankreich und nun auch Deutschland.

Anders gesagt: der von rechten Nationalisten wie linken Populisten erhobene Vorwurf, die EU sei ein rein neoliberales Projekt, wird ihr nicht gerecht. Die Absichten maßgeblicher Kräfte in den nationalen Regierungen und der Kommission - zuletzt aber auch des Parlaments - beschreibt es zutreffend.

Vertiefung gegen Erweiterung

Die Parallelität von Vertiefung und Erweiterung wurde zwar im Verlauf der vergangenen 10 Jahre immer propagiert, die notwendige Vertiefung hinkt aber leider dem Erweiterungstempo hinterher. Das vorläufige Scheitern des Verfassungsvertrages war in den traditionell EU-freundlichen Staaten Frankreich und Niederlanden vor allem ein Votum gegen die Erweiterung - zur Rechten generell und zur Linken zu einer Erweiterung ohne eine hinreichende Vertiefung. Dies mahnt eine Erweiterung der EU um Rumänien und Bulgarien strikt dran zu knüpfen, dass diese auch tatsächlich die Voraussetzungen hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung im vollen Umfang erfüllen.

Das Ziel einer immer engeren Union, einer politischen Union mit gemeinsamer Steuerpolitik oder hohen Sozialstandards, eines Europas der Bürger oder auch einer EU, deren Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik diesen Namen auch verdient, wurde aus den Augen verloren. Im Vordergrund der Ablehnung stand die Angst um die eigene wirtschaftliche und soziale Situation - und dies verband Rechte, die Europa als Auflösung der Nation ablehnten wie Wähler der Linken, die hier einem neoliberalen Projekt eine Absage erteilen wollten.

Ohne Zweifel gibt es einen Widerspruch zwischen dem Wunsch der neuen Mitgliedstaaten, ihre komparativen Kostenvorteile zu nutzen um ihren Entwicklungsrückstand zu verringern und dem Willen der alten Mitgliedstaaten ihren Arbeitsmarkt zu schützen, Sozialstandards zu wahren und Lohndumping zu verhindern. Dieser Widerspruch offenbart sich in zwei aktuellen Beispielen: der Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, deren Verlängerung um weitere drei Jahre zum 1.5.2006 ansteht sowie an der Debatte um die Dienstleistungsrichtlinie. Aber er findet sich auch im Hintergrund der Debatte um einheitliche beziehungsweise Mindestsätze bei der Unternehmensbesteuerung. Es ist wohlfeil, sonntags die Erweiterung der EU auf 25 zu feiern, alltags aber die Illusion aufrecht zu erhalten, es müsse sich innerhalb der alten EU-15 nichts ändern.

Handlungsoptionen:

Da die nationale Steuerungsfähigkeit dramatisch abgenommen hat, gibt es keine Alternative zur EU. Nur durch eine gemeinsame Politik ist die Gestaltung der Globalisierung möglich. Europäisch nichts zu tun bedeutet automatisch, den Grundprinzipien des Binnenmarkts allein das Feld zu überlassen. Und das kann nicht unser Anspruch an politische Gestaltung sein.

Und da der Vertrag von Nizza nicht taugt, um eine wirkliche Handlungsfähigkeit der 25 Mitgliedstaaten sicherzustellen, muss die Debatte zur Überwindung der Krise Europas nach vorne gerichtet geführt werden. Oder mit Blick auf den Entwurf eines Verfassungsvertrages gesprochen: Europa bedarf mehr und nicht weniger politischer Vertiefung.

Für den Fortgang des Verfassungsprozesses bieten sich zunächst mehrere Optionen an:

1. Festhalten am vorliegenden Verfassungsvertrag, evtl. auch Zweiteilung des Vertrages.

2. Einsetzen eines neuen Konvents, der auf der Grundlage der Diskussionen in den Mitgliedstaaten einen neuen Entwurf vorlegt.

3. Umsetzung einzelner Verfassungsbestandteile im Rahmen des geltenden Primärrechts oder durch kleinere Änderungen am EU- bzw. EG-Vertrag.

Zum jetzigen Zeitpunkt halten wir einen völlig neuen Wurf für reichlich unwahrscheinlich. Es ist offenkundig, dass die Möglichkeiten 1. und 3. nicht nur Alternativen sind, sondern durchaus miteinander kombinierbar sind.

Exkurs: Kerneuropa

In diesem Zusammenhang wird verstärkt eine weitere Option diskutiert, die für die Zukunft der EU weit reichende Konsequenzen hätte: eine Kernbildung. Der Grund für diese Debatte ist die Einsicht, dass die gewachsene Heterogenität der EU auf lange Sicht weitere Integrationsfortschritte unmöglichen machen wird. Diese Integrationsfortschritte sollen deshalb in einer kleineren Gruppe umgesetzt werden, was aber nicht die Abschaffung der EU zur Folge hätte.

Diskutiert wird beispielsweise die Weiterentwicklung der Euro-Gruppe zu einem Kern mit einheitlicher Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik oder die Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass eine Kernbildung im vertraglichen Rahmen der EU schwer praktikabel und somit ein neuer völkerrechtlicher Vertrag der teilnehmenden Staaten notwendig wäre.

Wir plädieren dafür, diese Debatte offen zu führen und die Vor- und Nachteile einer solchen Kernbildung gegeneinander abzuwägen. Ein handlungsfähiger EU-Kern könnte sicher die Krise der Output-Legitimation besser lösen. Vor allem deshalb, weil die meisten Euro-Staaten eine ähnliche Vorstellung vom europäischen Sozialmodell haben. Gleichwohl hat die Kern-Bildung auch Schattenseiten: neben praktischen und institutionellen Abgrenzungsschwierigkeiten liegt das Hauptproblem in der Spaltung der EU. Die viel beschworene Solidarität mit den neuen Mitgliedstaaten würde zumindest partiell aufgegeben. Andererseits könnte die politische Union einer Avantgarde die einzige Möglichkeit sein, die von uns gewünschten weiteren EU-Beitritte der Staaten des westlichen Balkans sowie der Türkei erfolgreich abzuschließen.

Ein Hauptargument dagegen aber dürfte sein, dass nun ausgerechnet mit den Niederlanden und Frankreich in zwei Ländern die Verfassung gescheitert ist, ohne die eine solche Kernbildung nicht denkbar ist. Was also sind die politischen Angebote, um Mehrheiten in diesen Ländern tatsächlich verändern können?

Eine neue europäische Idee

Die EU braucht einen neuen "Sinn". Ihre Legitimation als Friedensprojekt allein reicht nicht mehr aus. Dieser neue Kitt könnte ein Europa sein, wie es in der Lissabon-Strategie einmal propagiert wurde. Mit ihr wollte die EU "im Rahmen des globalen Ziels der nachhaltigen Entwicklung ein Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in der Welt sein."

Dies auf bloße Wachstumsstrategie reduziert zu haben, zeigt, wie sich in Kommission und Rat die politischen Gewichte verschoben haben. Jacques Delors sprach einmal davon, man müsse Europa einen tieferen Sinn geben, ihm eine Seele einhauchen, denn niemand verliebe sich in einen gemeinsamen Markt. Ein solches soziales Europa muss aber dem Gebot der Generationengerechtigkeit ebenso genügen wie dem der ökologischen Nachhaltigkeit und sich ebenso seiner Rolle als Zivilmacht wie als demokratische Idee verpflichtet fühlen.

Deutschland hat im ersten Halbjahr 2007 die Ratspräsidentschaft inne. Deutschland steht dabei vor der Herausforderung, die Überwindung der Krise der EU mit einem neuen Instrument zu bewältigen. Bisher hat es - zuletzt bei den Verhandlungen um die finanzielle Vorausschau bis 2013 - den stockenden Einigungsprozess vielfach durch materielle Leistungen befördert (und davon mittelfristig profitiert). Nun steht eine deutsche Bundesregierung vor der Herausforderung, Sinnstiftung zu betreiben. Europa als ein Modell zur Gestaltung von Globalisierung umzubauen, das ist die Herausforderung.

Der EU-Trend der letzten Jahre, ausschließlich eine - zudem verkürzt gedachte - Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum des politischen Interesses zu stellen, muss umgekehrt werden. Jede Regelung sollte hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Umwelt und soziale Fragen überprüft werden. Die im Juni 2006 zu verabschiedende neue Nachhaltigkeitsstrategie könnte ein Anknüpfungspunkt sein.

Gerade die ökologische Modernisierung, der Umbau der Energiepolitik hin zu mehr Effizienz, Einsparung und Erneuerbare, eine umfassende industriepolitische Strategie des Weg vom Öl verknüpft Innovation, Ökologie und stärkt die Wettbewerbsfähigkeit.

Europa ist ein Markt mit über 450 Mio. Konsumentinnen und Konsumenten. Er bringt ein eigenes Gewicht in den globalen Wettbewerb ein. Standards und Techniken die hier gesetzt und umgesetzt werden, haben die Chance globale Standards zu werden.

Will man die Interessen der beitretenden Staaten an Nutzung spezifischer Entwicklungsmöglichkeiten zum Ausgleich mit der Sicherung sozialer - und das heißt auch ökonomischer - Standards bringen, bedarf es Veränderungen auch in den Mitgliedstaaten. So ist in bestimmten, definierten Bereichen ein Rückgriff auf das Herkunftslandprinzip beim Angebot von Dienstleistungen durchaus denkbar, wenn gleichzeitig sichergestellt ist, dass Arbeit zu Mindestbedingungen entlohnt werden muss - auch für den aus einem anderem Mitgliedstaat stammenden Dienstleister. Dies geht nur, wenn auch in Deutschland rechtlich verbindliche Mindestlöhne eingeführt werden, etwa auf dem Niveau dieser Löhne in Frankreich oder den Benelux-Staaten. Ein Rumbasteln am Entsendegesetz dürfte hier nicht reichen.

Schließlich ist es für eine ökonomische Globalsteuerung unverzichtbar, dass auch Steuern zumindest in ihren künftigen Bandbreiten Gegenstand von Mehrheitsentscheidungen unter Beteiligung des Parlaments werden. Wenn der Aufruf des Umweltbundesamtes, doch lieber regional aus Pfandflaschen zu trinken, eine von der Kommission zu rügende Wettbewerbsverzerrung im einheitlichen Binnenmarkt darstellt (kein Witz, sondern wahr!), wie sehr muss dieses dann für Körperschaftssteuersätze zwischen 0 und 38 % gelten?

Auf der Einnahmeseite stellt sich die Frage nach einer Reform des Eigenmittelsystems, konkret eine EU-Steuer. Dafür wird es keine Akzeptanz geben, wenn nicht auf Ausgabeseite die beiden großen Blöcke Agrar- und Strukturpolitik angegangen werden. Wie kann eine sinnvollere Mittelverteilung befördert werden? Wie kann verhindert werden, dass die zweite Säule (ländliche Entwicklung) durch die aktuellen Beschlüsse drastisch abgebaut wird und stattdessen eine Stärkung erreicht wird? Zur Erhöhung der Transparenz der Mittelverwendung sollten sich Grüne dafür einsetzen, dass alle Endbegünstigten von EU-Subventionen veröffentlicht werden. Transparenz ist der beste Weg, um den Handlungsdruck für die Reform dieser Politikbereiche zu erhöhen.

Die Justiz- und Innenpolitik ist eines der dynamischsten Integrationsgebiete, egal ob es um Asyl- und Migrationspolitik, den Schutz der Außengrenzen oder die Terrorismusbekämpfung geht. Auch wenn gemeinsame europäische Regelungen sachlich geboten sind, so ist angesichts der Mehrheitsverhältnisse in Rat und Parlament wenig Fortschrittliches zu erwarten. Hier liegt angesichts der dramatischen Ereignisse an den Außengrenzen der EU, vor Lampedusa wie in Ceuta eine der größten Herausforderungen. Sie zeigen auch die Notwenigkeit hoher politischer Kohärenz auf - denn nur polizeilich und nur mit Mitteln der wirtschaftlichen Zusammenarbeit alleine wird sich das Migrationsproblem nicht bewältigen lassen.

Eine aktuelle grüne Standortbestimmung zu Europa darf zudem der Frage nach der "europäischen Identität", nach dem spezifisch europäischen Selbstverständnis, nach seinen geistigen, kulturellen, normativen und politischen Grundlagen ebenso wie Unterschieden und Konfliktlinien nicht ausweichen. Identität kann nicht von oben verordnet werden, sie muss sich von unten bilden. Identität aber kann es nicht ohne Integration geben.

In der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik steht neben der der Frieden stiftenden Rolle der EU nach innen ihre Rolle in der globalisierten Welt spielen im Mittelpunkt. In Handelsfragen, in Fragen einer globalisierten Umweltpolitik ist sie heute schon eine Macht ohne die wenig und gegen die kaum etwas geht. Sie steht gerade in der Entwicklungspolitik für einen strikt multilateralen Ansatz wie zur Verwirklichung der millenium development goals. Aber wie ist das Konzept der Zivilmacht Europa aktuell in einer Welt sich zuspitzender regionaler Konflikte und wachsender Konkurrenz um Ressourcen von Öl über Stahl bis Wasser zu übersetzen? Es ist richtig und wichtig, dass sich die Eu im Verfassungsentwurf auf eine strikte Achtung des Völkerrechts und auf eine Strategie der Multilateralität festgelegt hat - doch diese Ansätze schlagen sich noch nicht praktisch in in Politik nieder, wie in der Haltung zum Irak-Krieg durch einige Mitgliedstaaten deutlich wird.

Grüne und Europa

Grüne haben mit einer gemeinsamen Europäischen Grünen Partei und einem dezidiert pro-europäischen Wahlkampf in Deutschland eines ihrer besten Wahlergebnisse erzielt. Wir sehen in diesem Europa ein Modell, der Globalisierung soziale und ökologische Leitplanken zu verpassen und sie so gerecht zu gestalten. Deshalb haben wir ein elementares Interesse daran, die Krise der EU zu überwinden.

Gleichermaßen gilt es, die Zusammenarbeit der Grünen Parteien inhaltlich und organisatorisch voranzubringen und die dort beschlossenen Schwerpunkte und Kampagnen zu unterstützen

Bündnis 90/Die Grünen wollen die nächsten Monate nutzen, um im Vorfeld der Deutschen Präsidentschaft die Debatte zur Überwindung der Krise der EU öffentlich zu führen.

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