Grüne Eckpunkte für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007

Deutschland wird im ersten Halbjahr 2007 den Vorsitz im Rat der Europäischen Union innehaben. Auf die Bundesregierung kommt damit eine besondere Verantwortung für die weitere Entwicklung der EU als ganzes, aber auch für eine erfolgreiche europäische Politik in den einzelnen Politikbereichen zu.

Der europapolitische Start der neuen Bundesregierung beim Europäischen Rat vergangenen Dezember hat gegenüber Deutschland große Erwartungen geweckt. Von Bundeskanzlerin Merkel wird erwartet, die vielfältigen Probleme, vor denen die Europäische Union steht, einer Lösung zuzuführen. Doch, es scheint, der Schwung der Bundesregierung ist erlahmt, bevor sie überhaupt das Programm ihrer Präsidentschaft vorgestellt hat.

Deutschland hat als Gründungsmitglied und größter Mitgliedstaat der EU eine besondere Verantwortung. Die EU muss fit gemacht werden für die Herausforderungen des neuen Jahrhunderts: die Bewahrung unseres sozialen und ökologischen Gesellschaftsmodells, die gerechte Gestaltung der Globalisierung, den Schutz unsers bürgerrechtlichen Fundaments und die Herausbildung einer europäischen Demokratie. Nur im Rahmen der EU werden wir überhaupt dazu in der Lage sein. Es bedarf großer Anstrengungen, will die Bundesregierung den Ansprüchen der europäischen Nachbarn aber auch dem eigenen europapolitischen Erbe der vergangenen Jahrzehnte gerecht werden. Nur durch eine ambitionierte Präsidentschaft wird es der Bundesregierung gelingen, die Krise der EU endlich zu beenden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, wird den Erfolg der deutschen Präsidentschaft ausmachen.

Anders als frühere Präsidentschaften untermauert die Bundesregierung ihre Ambitionen aber bislang nicht durch eine offensive Kommunikation im Vorfeld. Bis heute hält sie ihr Arbeitsprogramm unter Verschluss und lässt eine klare Orientierung vermissen. Als kommende Präsidentschaft muss die Bundesregierung dringend eine politische Lotsenfunktion wahrnehmen. Stattdessen hat sie in den zentralen Fragen gemeinsamer europäischer Politik den Kompass verloren. Dabei liegen die zentralen Anforderungen an eine erfolgreiche deutsche Ratspräsidentschaft auf der Hand:

Ausweg aus der Verfassungskrise

Die Europäische Union braucht eine Verfassung, die den Grundrechtsschutz stärkt, für effiziente Institutionen und transparente Verfahren sorgt und die demokratische Legitimation der EU erhöht. Über ein Jahr nach Beginn der „Reflexionsphase“ über den EU-Verfassungsvertrag ist aber immer noch keine Lösung in Sicht. Die Bundesregierung verweigert sich einer öffentlichen Debatte des Problems, wie die EU mit einem Vertrag umgeht, den bald 16 Mitgliedstaaten – zum Teil über Volksabstimmungen – ratifiziert, aber mit Frankreich und den Niederlanden zwei Mitgliedstaaten abgelehnt haben. Doch das Warten auf die französischen Präsidentschaftswahlen und der damit verbundene Plan, danach hinter verschlossenen Türen einen Kompromiss zu verhandeln, wird nicht funktionieren. Die Bürgerferne des bisherigen EU-Integrationsprozesses hat neben der sozialen Verunsicherung und damit verbundener Angst vor der Erweiterung zum negativen Ausgang der Referenden in Frankreich und den Niederlanden beigetragen. Die Bundesregierung muss daher einen Ausweg aus dem Verfassungsdilemma vorschlagen und sich der öffentlichen Diskussion stellen. Drei Kernpunkte sind dabei unabdingbar: Erstens die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta. Zweitens die Bewahrung der institutionellen Fortschritte, vor allem die Stärkung des Europäischen Parlaments, der (weitgehende) Übergang zu Mehrheitsentscheidungen im Rat, die Einführung des Systems der doppelten Mehrheit und des Amtes des Europäischen Außenministers. Und drittens die Zweiteilung des Vertrages in einen reinen Verfassungsvertrag, der die Grundrechte und die institutionellen Fragen umfasst und einen Ausführungsvertrag, der die detaillierten Regelungen für die einzelnen Politikbereiche enthält.

Das viel beschworene „Europa der Bürgerinnen und Bürger“ entsteht aber nicht nur durch die wichtigen institutionellen Reformen im Verfassungsvertrag. Es entsteht durch tagtägliches glaubwürdiges Regierungshandeln in den EU-Institutionen. Die Einrichtung der Grundrechteagentur kann die Beachtung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten sichern und stärken. Zentraler Teil von mehr Bürgernähe sind auch z.B. mehr Öffentlichkeit im Rat und ein transparenter Umgang mit den Finanzen der EU, die von den Bürgerinnen und Bürgern schließlich mit ihren Steuermitteln finanziert wird. Auch daran wird sich die Bundesregierung während der Ratspräsidentschaft messen lassen müssen.

Das doppelte Nein zum EU-Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden hat gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger Angst um ihre soziale und wirtschaftliche Situation haben und ihr Vertrauen in die Gestaltungskraft der nationalen sowie der europäischen Ebene erschüttert ist. Dem müssen wir eine reformierte europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik entgegensetzen wie es in der Lissabon-Strategie einmal propagiert wurde. Mit ihr wollte die EU „im Rahmen des globalen Ziels der nachhaltigen Entwicklung ein Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in der Welt sein.“ Ein zentraler Baustein dieser Bemühungen sollte der Europäische Bildungsraum sein. Die Förderung von Mobilität in allen Bildungsbereichen sollte das Zusammenleben und Zusammenwachsen innerhalb Europas stärken. Auch die Innovationsfähigkeit und Wirtschaftskraft der EU sollten so nachhaltig verbessert werden. Die Bemühungen um einen gemeinsamen Forschungsraum Europa sollten die Mitgliedstaaten auf dem Weg in die Wissensgesellschaft voranbringen.

Den Lissabon-Ansatz auf eine bloße Wachstumsstrategie reduziert zu haben, zeigt, wie sich in Kommission und Rat die politischen Gewichte verschoben haben. Ein soziales Europa muss dem Gebot der Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit ebenso genügen wie dem der ökologischen Nachhaltigkeit. Es muss sich seiner Rolle als Zivilmacht ebenso verpflichtet fühlen wie der weltweiten Stärkung der demokratischen Idee. Seit den Römischen Verträgen ist der Grundsatz festgeschrieben: „gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“, dies ist jedoch noch in keinem EU-Mitgliedstaat Realität. Die deutsche Ratspräsidentschaft muss sich auch für mehr Lohngerechtigkeit zwischen Männern und Frauen einsetzen.

Energiewende in Europa einleiten – Klimawandel bremsen

Die Bundesregierung enttäuscht darüber hinaus auf dem wichtigsten Feld künftiger gemeinsamer Politik in Europa. Zwar wurde die Relevanz der Energiepolitik für die ökonomische Entwicklung der EU wie auch ihrer globalen ökologischen Folgen erkannt und das Thema bereits vor Jahresfrist zu einem Schwerpunkt des Frühjahrsgipfels erklärt. Aber alleine eine sinnvolle Tagesordnung führt noch zu keiner sinnvollen Politik. Statt auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz zu setzen, unterstützt die Bundesregierung die Fehlallokation der Mittel im 7. Forschungsrahmenprogramm für Atomkraft und Kohle. Die in der Energie- und Klimapolitik blockierte Bundesregierung muss im Rahmen der EU-Präsidentschaft die Beratungen zum Grünbuch für eine europäische Energiepolitik zum Abschluss bringen.

Umso wichtiger ist, dass sie von uns Grünen zu einer zukunftsfähigen Energie- und Klimapolitik und der Wahrnehmung einer Vorreiterrolle in der EU getrieben wird. Die EU-Mitgliedstaaten müssen sich zum Schutz des Klimas mindestens dazu verpflichten, ihre Treibhausgasemissionen bis 2020 um 30% zu reduzieren. Es ist eine vordringliche Aufgabe der deutschen EU-Präsidentschaft, die Rolle der EU beim globalen Klimaschutz zu stärken. Deshalb sollten ab 2012 die Zertifikate beim Emissionshandel nicht mehr verschenkt, sondern komplett versteigert werden. Auch muss die EU zum energieeffizientesten Wirtschaftsraum der Erde werden. Dazu brauchen wir eine Stärkung und den Ausbau von Energieeffizienzstrategien. Der nachhaltige Ausbau erneuerbarer Energien muss europaweit in den Mittelpunkt gestellt werden. Dafür brauchen wir dringend ambitionierte und verbindliche Ausbauziele für alle Arten von Erneuerbaren Energien (unter Einbeziehung der Landwirtschaft). Deshalb haben wir bereits vorgeschlagen, das Jahr 2007 als Jahr für eine neue europäische und internationale Energiepolitik zu nutzen.

Auf dem Frühjahrs-Gipfel werden die Staats- und Regierungschefs zudem einen Aktionsplan für eine gemeinsame Energiepolitik vereinbaren. Die Bundesregierung muss hierfür einen ehrgeizigen Plan vorlegen, der auf die energiepolitischen Herausforderungen der Zukunft eingeht, einschließlich der Außendimension der Energiepolitik. Interdependenz mit den Energieexportländern und Diversifizierung der Energiequellen und der Transportwege sind hier ausschlaggebend. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Erschließung Erneuerbarer Energiequellen sowohl im europäischen Raum als auch in den Nachbarregionen. Ein zentrales Anliegen muss die Vermeidung von Treibhausgasen v.a. durch eine Effizienzrevolution und den verstärkten Einsatz Erneuerbarer Energien im Mobilitätsbereich sein. Wir brauchen CO2-Verbrauchsobergrenzen und eine zeitlich gestaffelte Reduktionsstrategie für alle Verkehrsträger.

Grundlage für einen erfolgreichen Aufbau von Erneuerbaren Energien und für eine größere Energieeffizienz ist ein fairer Markt. Die Entflechtung von Erzeugung und Netz muss durch eine weitere Liberalisierungsrichtlinie erreicht werden.

EU-Außenpolitik

Der dritte Kernbereich der Ratspräsidentschaft muss die Außen- und Sicherheitspolitik sein. Denn wir brauchen dringend eine einheitlichere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die jüngst auch wieder im Libanon zu hörende Vielstimmigkeit schwächt die EU als außenpolitische Akteurin. Für die EU steigt mit der militärischen Beteiligung am UNIFIL-Mandat im Libanon auch die politische Verantwortung im Nahostfriedensprozess, der sich die Bundesregierung stellen muss. Sie muss während der deutschen Ratspräsidentschaft im Rahmen des Nahost-Quartetts für eine energische Friedensinitiative sorgen, die neue Verhandlungen Israels und der Palästinenser über eine gerechte Zweistaatenlösung mit einem entwicklungsfähigen palästinensischen Staat und einem Staat Israel in anerkannten und sicheren Grenzen zum Ziel haben muss. Darüber hinaus muss sie Initiativen unterstützen, die neue Perspektiven für eine friedliche Koexistenz aller Staaten der Region garantieren. Ohne substantielle politische Fortschritte droht sonst auch die UNIFIL-Mission zu scheitern. Dazu ist eine konsequente Diplomatie nötig, die auf Einbeziehung der arabisch-islamischen Länder und direkte Verhandlungen setzt. Dazu zählt z.B. die Wiederaufnahme direkter Verhandlungen zwischen Israel und Syrien, Fortschritte in den Verhandlungen mit Iran, Überlegungen zu einer neuen Nahostkonferenz oder zu tragfähigen neuen Sicherheitsstrukturen in der Region.

Der laufende Erweiterungsprozess muss gestaltet und vor allem die Verhandlungen mit der Türkei in ruhigeres Fahrwasser gelenkt werden. Die Bundesregierung steht hier in der Pflicht, die Reformkräfte in der Türkei weiter zu unterstützen und sich für eine tragfähige Lösung im türkisch-zypriotischen Konflikt zu engagieren. Weiterhin wird die Frage der Umgestaltung der Europäischen Nachbarschaftspolitik eine zentrale Rolle spielen. Gerade den Staaten Osteuropas muss eine glaubwürdige europäische Perspektive eröffnet werden. Die Bundesregierung muss dafür Sorge tragen, dass diesen Staaten kurz- und mittelfristig attraktive Kooperationsangebote gemacht werden, die über die bisherigen Angebote im Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses mit den Staaten des westlichen Balkans sowie der Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit den Staaten Osteuropas hinausgehen. Ebenso bedeutsam wird die Frage nach der künftigen Zusammenarbeit mit Russland und den Staaten Zentralasiens, die derzeit nicht Teil der ENP sind. Eine strategische Partnerschaft mit Russland muss mehr sein als die jetzt angekündigte „Annäherung durch Verflechtung“.

Wir brauchen eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit unserem Nachbarkontinent Afrika, deshalb muss die EU-Afrikastrategie endlich sichtbarer mit Leben gefüllt werden.

Menschenrechtspolitik muss in den Außenbeziehungen der Europäischen Union vertikal und horizontal, d.h. in allen Themenbereichen und auf allen Ebenen eine zentrale Rolle spielen. In den Polizei- und Militärmissionen der EU und der Mitgliedstaaten sollen Menschenrechtsspezialisten obligatorischer Bestandteil werden.

Eine europäische Justiz- und Innenpolitik

Die vierte Anforderung für die deutsche Präsidentschaft liegt im Bereich der europäischen Justiz- und Innenpolitik. Vor allem die Europäisierung der Asyl- und Migrationspolitik sowie Fragen des Außengrenzregimes und damit verbundene menschenrechtliche Herausforderungen müssen auf die Tagesordnung. Denn nicht zuletzt die humanitäre Katastrophe an den südeuropäischen Grenzen zeigt die Dringlichkeit gemeinsamen europäischen Vorgehens und fordert das Engagement der deutschen Präsidentschaft.

Wir setzen uns für eine menschenrechtsorientierte europäische Asyl- und Einwanderungspolitik ein, die im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention den Menschen Schutz bietet, die ihn benötigen. Zu dem uneingeschränkten und allumfassenden Flüchtlingsschutz – zu dem sich die EU immer bekannt hat – gehört auch die Pflicht der EU-Staaten sicherzustellen, dass diejenigen, die diesen Schutz benötigen, auch tatsächlich Zugang zur EU erhalten. Damit verbunden sein müssen zudem eine gemeinsame Bekämpfung der Fluchtursachen, die Schaffung legaler Wege der Einwanderung und eine abgestimmte Strategie der Anwerbung qualifizierter Fachkräfte. Dazu gehört ebenso eine Intensivierung des Austauschs über die Integrationspolitik auf europäischer Ebene.

Die bisherige Positionierung der Bundesregierung in Datenschutzfragen lässt für die Präsidentschaft keine Hoffnung auf progressive Impulse aufkommen. Ob bei der Ausweitung des Schengen-Informationssystems und der Entwicklung des gemeinsamen Visasystems oder der Weitergabe von Fluggastdaten zur Terrorbekämpfung werden wir die Messlatte für die Bürgerrechte hoch hängen und auf höchste Datenschutzstandards drängen.

Im Bereich der europäischen Justiz- und Innenpolitik muss die Garantie von Verfahrensgrundrechten im Strafverfahren eine zentrale Aufgabe der Ratspräsidentschaft sein. Die Bundesregierung soll deshalb eine Einigung über verbindlich geltende justizielle Grundrechte herbeiführen.

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