Lateinamerika: Aufbruch zu neuen Ufern?

Fachgespräch (22.06.2006)

Wohin bewegt sich Lateinamerika politisch und wirtschaftlich? Diese Frage diskutierten wir mit Fachleuten aus Politik und Wissenschaft sowie von lateinamerikanischen Botschaften und Nichtregierungsorganisationen.

 

In seinem Eröffnungsstatement betonte der Fraktionsvorsitzende Fritz Kuhn, dass die neuen Entwicklungen in Lateinamerika von grüner Seite sehr aufmerksam verfolgt werden. Es seien weit mehr Chancen als Gefahren durch die neu gewählten Regierungen zu erkennen, die sich soziale Reformen und mehr Rechte für die Indigenen auf die Fahnen geschrieben haben. Wirkliche politische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit könne aber nur erreicht werden, wenn klare soziale und ökologische Kriterien angelegt werden. Dies sei besonders wichtig, um in Lateinamerika die besonders ungerechte Einkommensverteilung auszugleichen und eine boomende Rohstoffwirtschaft ökologisch zukunftsfähig zu gestalten.

 

Für Brasilien liefern die Soja- und Zuckerexporte auf der einen Seite notwendige Devisen. Sie machen einen Großteil der Agrarexporterlöse aus und haben es Brasilien erlaubt, vorzeitig seine Auslandsschulden zurückzuzahlen. Gleichzeitig nimmt jedoch die Umweltzerstörung durch den großflächigen Anbau in Monokulturen zu. Einem Wirtschaftswachstum auf Kosten der Umwelt gilt es entschieden entgegenzugetreten, wie Harald Loßak vom Kompetenzfeld Umwelt- und Ressourcenschutz der GTZ betonte. Besonders katastrophale Ausmaße hat die Zerstörung des Amazonas dort angenommen, wo sich Politik mit Sojaanbau verquickt, wie im Bundesland Mato Grosso, dessen Gouverneur gleichzeitig der größte Sojaunternehmer der Welt ist: Mato Grosso ist das Bundesland Brasiliens mit der höchsten Entwaldungsrate. Ein genereller Zielkonflikt besteht auch für eine grüne Energiepolitik auf der Grundlage nachwachsender Rohstoffe. Diese müsse möglichst von einem wachsenden Landverbrauch entkoppelt werden und stärker, wie bei Biodiesel, strategisch an kleinbäuerliche Betriebe strategisch angebunden werden.

 

Juan Erbar von der argentinischen Botschaft betonte die große Bedeutung des Mercosur für die Integration Lateinamerikas. 1989 startete der Mercosur mit einer Verständigung zwischen Brasilien und Argentinien und ist trotz kleiner und größerer Hürden, die es zu überwinden gilt, weiterhin sehr lebendig. Die Integration von Venezuela in den Mercosur ist eine Tatsache, die politisch entschieden wurde. Sie schafft einen gemeinsamen Markt für 250 Millionen Menschen. Der erweiterte Mercosur bündelt jetzt 75 Prozent der Wirtschaftskraft Südamerikas.

 

Über die Rolle des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez in Lateinamerika wurde heftig debattiert. Die einen befürchten, dass durch Chávez "Verteilungsassistenzialismus" eine Fragmentierung auf dem Subkontinent vorangetrieben wird, die bereits durch das Ausscheiden des Landes aus dem Andenpakt erkennbar wird. Andere sehen den Rückzug aus dem Andenpakt eher als Ergebnis der bilateralen Freihandelsabkommen von Kolumbien und Peru mit den USA: Nur durch eine Hinwendung Venezuelas zum Mercosur sei dieser Freihandelsdynamik entgegenzuwirken. Thomas Fritz (ATTAC) stellte den Mercosur als ein Modell der "neoliberalen Integration" dar. Demgegenüber stünde in einer Art Ideenwettbewerb die "bolivarianische Alternative für Amerika" ALBA, ein Abkommen zwischen Venezuela, Kuba und Bolivien, das ein Modell des solidarischen Warenaustausches verfolgt.

 

Generell sei zu berücksichtigen, dass die neuen politischen Akteure Lateinamerikas keine "Neopopulisten" im luftleeren Raum seien. Das beste Beispiel dafür sei Evo Morales, der durch starke soziale Bewegungen zum Präsidenten wurde. Günther Maihold von der Stiftung Wissenschaft und Politik verwies stärker auf die Gefahren desjenigen Populismus, der von mangelnder Transparenz, Klientelismus und einem starken militärischem Element, wie in Venezuela, geprägt sei. Klaus Meschkat von der Universität Hannover wies darauf hin, dass in der öffentlichen Debatte häufig mit unterschiedlichen Maßstäben gearbeitet werde. Einerseits stelle man Chávez "Assistenzialismus", also die groß angelegte Unterstützung sozial Bedürftiger, als große Gefahr dar. Anderseits applaudiere man dem ähnlichen Null-Hunger-Programm von Lula in Brasilien. Für Chávez sei es ein politisch enorm aufwendiger Kraftakt gewesen, die Kontrolle über das venezolanische Erdölunternehmen PDVSA zu erlangen - beinahe sei Chávez selbst darüber gestürzt. Es sei daher nur konsequent, mit den Öleinnahmen auch gesellschaftspolitisch zu arbeiten und sie für soziale Ziele einzusetzen. Obwohl eine abschließende Beurteilung noch nicht möglich sei, sei davon auszugehen, dass die "bolivarianische Alternative für Amerika" (ALBA) im Sinne eines Wettbewerbs auch positive Effekte auf die brasilianische und die argentinische Regierungen haben würde.

 

Insgesamt begrüßten alle Teilnehmer sehr die Initiative der Bundestagsfraktion, Lateinamerika stärker in die öffentliche Debatte zu rücken. Eine gute Opposition gestaltet Politik und gestaltet damit auch die deutsche Lateinamerikapolitik mit: durch parlamentarische Initiativen und durch eine Anregung der zivilgesellschaftlichen Debatte. Das Thema Lateinamerika und Karibik soll am "Köcheln" gehalten werden. Es gilt aber auch neue Impulse für die konkrete Präsenz der deutschen Institutionen in Lateinamerika zu geben. In der Vergangenheit hätten, so Günther Maihold, die deutschen Stiftungen versagt, denn keine von ihnen habe im Vorfeld Kontakte zu heutigen Schlüsselakteuren wie Hugo Chávez und Evo Morales aufgebaut. Um eine stärkere deutsche und europäische Lateinamerikapolitik voranzutreiben, müssten deshalb die institutionellen Zugänge neue ausgerichtet werden. Aus Sicht der Entwicklungszusammenarbeit sei eine Konzentration auf Einzelländer, die wie zum Beispiel Bolivien einen sehr hohen "Subventionsanteil" aufweisen, für eine erfolgreiche Lateinamerikapolitik eher hinderlich. Mehr Mittel, aber auch eine stärkere Diversifizierung seien notwendig. Die Regierungen in Lateinamerika selbst stehen vor der Herausforderung, stärker Eigenmittel für den Entwicklungsprozess zur Verfügung zu stellen. Der Aufbau von gerechteren und effizienteren Steuersysteme ist ein Schlüssel dazu.



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