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Abstimmung über die Europäische Verfassung

Rede im Bundestag zur Abstimmung über die Europäische Verfassung

12. Mai 2005

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Diese Woche ist eine wahrhaft historische Woche, eine bewegende Woche für Deutschland gewesen und der heutige Tag ist ein guter Tag für Deutschland; denn die Verfassung für Europa, die wir heute mit großer Mehrheit verabschieden werden, ist ein Meilenstein auch für unser Land. Ich bin sehr froh darüber, dass wir dem Verfassungsvertrag hier im Deutschen Bundestag mit so überwältigender Mehrheit zustimmen. Es ist auch aus unserer historischen Verantwortung ein hervorragendes Signal, dass keine politische Kraft im Deutschen Bundestag, wie zum Teil in anderen Ländern, versucht hat, das Thema des Verfassungsvertrages für innenpolitische Zwecke zu instrumentalisieren. Das ist ein ausgesprochen positiver Vorgang, auf den wir alle stolz sein können und für den ich mich bei allen Fraktionen bedanken möchte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

 

Aber auf der anderen Seite ist es auch so, dass die Mehrheit, die sich heute im Bundestag darstellen wird, keine Eins-zu-eins-Entsprechung in der deutschen Bevölkerung hat.

 

Ich glaube, dass wir alle aufgrund unserer Verantwortung für die europäische Zukunft aufgerufen sind, den Menschen in Deutschland sehr genau zu erklären, warum diese Verfassung für Europa alternativlos ist. Ich möchte dazu gerne ein paar Stichworte nennen.

 

Diese Verfassung das ist für mich einer der zentralen Kernpunkte macht Europa demokratischer. Wer zu dieser Verfassung Nein sagt, der sagt auch Nein zu einem demokratischer werdenden Europa, der sagt Nein zu mehr Beteiligungsrechten des Europäischen Parlaments und zu mehr Transparenz. Wer zu dieser Verfassung Nein sagt, der sagt auch Nein zu einem handlungsfähigeren Europa. Was wir aber brauchen und wollen, ist ein Europa, das die Entscheidungen schnell und transparent treffen kann. Die Abstimmungsmechanismen, die wir schaffen, machen dieses Europa handlungsfähiger.

Auch das muss deutlich werden: Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, der sagt auch Nein zum Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, der sagt auch Nein dazu, dass die Europäische Grundrechte-Charta für alle Bürgerinnen und Bürger Europas rechtsverbindlich wird, und der beraubt sich einer guten Grundlage für die Wahrung und Durchsetzung der unveräußerlichen Menschenrechte und der individuellen Bürgerrechte. Ich kann für meine Fraktion feststellen: Wir sagen Ja zu Europa, weil wir, was den Schutz der Grundrechte und der Menschenrechte angeht, diese Verfassung für einen großen Fortschritt halten.

Ich möchte in diesem Zusammenhang dankbar an den Kollegen Wolfgang Ullmann erinnern, der als Mitglied des Europäischen Parlaments für die Entwicklung der Europäischen Grundrechte-Charta Hervorragendes geleistet hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

 

Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, sagt auch Nein zu einem sozialeren Europa. Denn in dieser Verfassung wird zum ersten Mal die Wirtschaft Europas als soziale Marktwirtschaft und nicht als freie Marktwirtschaft definiert. Auch das ist ein großer Fortschritt. In der Europäischen Union werden jetzt sozialere Ziele angestrebt. Wir sollten nicht dem plumpen Populismus einiger Leute auf den Leim gehen, die uns einreden wollen, dass mit dieser Verfassung Europa unsozialer und kälter wird. Diese Verfassung bietet die Grundlage dafür, dass das europäische Gesellschaftsmodell ein soziales Modell ist, das sich fortentwickelt, blüht, wächst und gedeiht. Diese Chance haben wir. Aber wir müssen sie wahrnehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch die friedenspolitische Dimension ist in der öffentlichen Debatte häufiger angesprochen worden. Wer Nein zu dieser Verfassung sagt, der sagt auch Nein dazu, dass zivile und militärische Fähigkeiten, die für die Konfliktlösung eingesetzt werden können, zum ersten Mal in einer Verfassung nebeneinander gestellt werden. Wer Nein dazu sagt, der will anscheinend nicht die zivilen Fähigkeiten zur Konfliktbewältigung einsetzen, die uns diese Verfassung an die Hand gibt. Daher ist es wichtig, dass wir zu dieser Verfassung Ja sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte noch ein zentrales Ziel dieser Verfassung deutlich machen. In der Verfassung wird als Ziel formuliert:

 

"Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität ... unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte ..."

 

Ich glaube, eine so progressive nationalstaatliche Verfassung muss erst noch geschrieben werden. Deshalb sind wir für diese Verfassung.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Da wir für diese Verfassung sind das haben heute alle Redner deutlich gemacht , haben wir allerdings auch die Verantwortung, das Bild von Europa, das in der Öffentlichkeit gezeichnet wird, mit Leben zu erfüllen. Auch das ist etwas, was mir in dieser Debatte gefehlt hat - auch in Ihrer Rede, lieber Herr Kollege Stoiber, obwohl ich ansonsten vielen Teilen Ihrer Rede zustimme.

Ich glaube, wir haben die Verantwortung, die Ängste in der Bevölkerung aufzunehmen. Aber wir haben auch die Verantwortung, nicht zusätzlich Ängste zu schüren, sondern real und rational über die Herausforderung zu diskutieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Erweiterung der EU, die wir alle hier im letzten Jahr gefeiert haben und über die wir uns gefreut haben, darf nicht als Instrument genutzt werden, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren.

Denn wir müssen uns immer klar machen: Was ist denn die Alternative dazu? Was wäre denn, wenn Polen heute nicht in der EU wäre, oder was wäre, wenn Bulgarien und Rumänien keine Beitrittsperspektive hätten? Was würde das ökonomisch bedeuten, wenn diese Länder nicht nach den Spielregeln der Europäischen Union verfasst wären? Es mag sich jeder, der an Wettbewerbsgleichheit interessiert ist, vorstellen, was es bedeuten würde, wenn wir an unseren Ostgrenzen Länder hätten, die nach völlig anderen ökonomischen, sozialen und demokratischen Spielregeln funktionieren würden. Wir haben sozial, demokratisch, aber auch ökonomisch und natürlich ökologisch ein eigenes Interesse daran, dass die Erweiterung der Europäischen Union voranschreitet und die Spielregeln, die wir wollen, auch in diesen Ländern greifen. Deshalb sollte man keine Ängste vor der Erweiterung schüren, sondern realistische Mechanismen einbauen.

Das hat diese Bundesregierung in der Frage der Dienstleistungsfreiheit getan. Deshalb ist Ihr Hinweis auf die Dienstleistungsfreiheit völlig falsch, weil die Bundesregierung hier ihrer Verantwortung nachgekommen ist und Übergangsregelungen eingeführt hat, die sich vernünftig realisieren lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der zweite Teil dieser Diskussion umfasst die Debatte um unsere nationale Verantwortung im Deutschen Bundestag. Dazu ist von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern vieles gesagt worden. Der Hinweis ist richtig, dass der Deutsche Bundestag durch die europäische Verfassung und die Subsidiaritätsklage bzw. Subsidiaritätsrüge, wie sie vorgesehen ist, eine deutlich größere Verantwortung bekommt. Wir können jetzt ob zu Recht oder nicht nicht mehr mit dem Finger nach Brüssel zeigen und sagen: Was die da alles für einen Unsinn, für komplizierte Regelungen, für überflüssigen Quatsch realisieren! Vielmehr sind wir selber in unserem nationalen Parlament jetzt ein Stück weit mehr verantwortlich. Das ist ein Riesenfortschritt; aber das ist auch eine riesige Verantwortung, die wir damit tragen.

Ich glaube, dass wir dieser Verantwortung mit den Strukturen, so wie wir sie bisher haben, nicht gerecht werden können. Wir brauchen in diesem Hohen Hause andere, zusätzliche Arbeitsstrukturen. In dem vorliegenden Entschließungsantrag ist auf eine Fragestunde zu Themen europäischer Politik hingewiesen worden. Auch die Arbeit in den Fachausschüssen muss sich sehr viel stärker an dem, was in Brüssel tatsächlich zur Entscheidung ansteht, orientieren. Wir sollten nicht nur europäische Beschlüsse der Vergangenheit zur Kenntnis nehmen, sondern selber in einem sehr viel umfangreicheren Maße unsere Initiativrechte nutzen, um uns in die Entscheidungsstrukturen auf der Brüsseler Ebene einzuklinken, und nicht mit Debatten nachklappen, wie sie jetzt zum Teil über die Verfassung geführt werden. Ich verstehe überhaupt nicht, dass keiner gewusst haben will, worum es eigentlich geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Über diese Verfassung ist so breit wie über kein anderes Projekt diskutiert worden ist. Lassen Sie uns deshalb die Verantwortung annehmen, die wir in unserem Parlament haben! Lassen Sie uns die Arbeit in den Ausschüssen ernsthaft umstrukturieren! Lassen Sie uns eine neue Fragestunde beschließen, um hier im Parlament über europäische Themen zu debattieren! Dann werden wir mit Sicherheit einen großen Schritt vorankommen.

Jacques Delors hat einmal gesagt: "Europa ist nur einer wirklichen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr des Stillstandes." Wenn wir das, was heute zur Entscheidung ansteht, nicht realisieren würden, dann würden wir uns dieser Gefahr tatsächlich aussetzen. Diese Verfassung nicht anzunehmen, die Umsetzung in nationales Recht nicht zu realisieren wäre nicht nur ein großer Fehler, sondern für den Deutschen Bundestag auch historisch verantwortungslos. Dazu wird es nicht kommen.

Robert Schuman hat in seiner historischen Erklärung vom 9. Mai 1950 gesagt:

"Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, ..."

Die Tatsachen, die wir heute schaffen, sind im Sinne von Robert Schumans europäischem Traum ein ganz großer Schritt, konkret nach vorne zu kommen und unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Europa gerecht zu werden, insbesondere unserer Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

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